© Alfred Starkmann - DIE WELT - 14. November 1997
Mit Humor und Eigensinn für Gerechtigkeit:
Astrid Lindgren wird heute 90
Sie hat es wahr gemacht. Gemeinsam mit ihrer Tochter ist sie verreist. Nicht einmal engste Freunde wissen wohin. Astrid Lindgren hält sich versteckt, um dem Trubel zu entgehen.
Als sie es vor ein paar Monaten ankündigte, zweifelte kaum jemand daran, dass sie es auch tun würde. Denn die schelmische Widerspenstigkeit des Kinderpersonals in ihren Büchern ist ja keine reine Erfindung der schriftstellerischen Phantasie, sondern stammt zum guten Teil aus dem eigenen Naturell. Und mit einigem Trubel ist auch bestimmt zu rechnen am Ehrentag der berühmtesten Kinderbuchautorin der Welt, deren Popularität in ihrer schwedischen Heimat sogar die von Königin Silvia übertrifft, obwohl sie wegen ihrer schwindenden Sehkraft seit fünf Jahren nichts mehr veröffentlicht hat.
Das darf man sich ruhigen Gewissens leisten, wenn man auf mehr als 70 Buchtitel zurückblicken kann, die in 68 Sprachen eine Gesamtauflage von rund 50 Millionen Exemplaren erzielt haben. Die Spitzenreiterin auf der Bekanntheitsskala ist nach wie vor "Pippi Langstrumpf", 1945 erschienen und seitdem gleich anderen ihrer berühmten Figuren mehrfach für Funk, Fernsehen und Film bearbeitet.
Der Meisterdetektiv Kalle Blomquist, der fliegende Karlsson, die Räubertochter Ronja oder die Brüder Löwenherz zählen zum Inventar auf der Lektüre-Liste keineswegs nur minderjähriger Leser.
Erwachsene, die sich vielleicht erst in zweiter Linie für die Kinderbuchautorin interessieren, heben ihr gesellschaftspolitisches Engagement, das 1976 Aufsehen erregte, hervor. Das Finanzamt hatte Astrid Lindgren aufgefordert, auf ihr für das Vorjahr angegebene Einkommen von zwei Millionen Kronen eine Steuerlast in eben dieser Höhe plus 2000 weitere Kronen zu entrichten. Die Schriftstellerin trat daraufhin aus der regierenden Sozialdemokratischen Partei Schwedens aus und nahm die hirnrissigen Bestimmungen in ihrer Satire "Pomperipossa in Monosmanien" aufs Korn - mit dem Effekt, dass das Steuersystem schnell geändert wurde und die Sozialdemokraten die nächste Wahl verloren.
In jüngerer Vergangenheit setzte sie sich vehement für den Tierschutz ein, aus ihrer Sicht ein Thema, das ihr als Tochter eines Pfarrhofpächters in der Provinz Smaland naturgemäß am Herzen liegen muss. Sie erreichte das Verbot des Kupierens von Hunden und von Geflügel-Legebatterien sowie Verbesserungen in der Viehhaltung. Ministerpräsident Carlsson nannte das neue Gesetz die "Lex Astrid". Und selbstverständlich gab es ein extra Kinderbuch dazu:
"Meine Kuh will auch ihren Spaß haben"
Der Grund ihrer politischen Wortmeldungen war und ist offensichtliche Ungerechtigkeit. Die Quelle ihrer literarischen Inspiration sprudelte immer aus der Erinnerung an die heile Welt ihrer smaländischen Kindheit, wie sie uns in den "Kindern von Bullerbü" gegenübertritt.
Gleichwohl hat sie mit ihrem Werk kein nostalgisches Refugium geschaffen, an dem die bösen Zeitläufe der Gegenwart vorbeigingen, wie ihr besonders während der rebellierenden späten sechziger und frühen siebziger Jahre vorgeworfen wurde. Nicht nur in "Mio, mein Mio" oder den "Brüdern Löwenherz" kommen Gewalttat, Krieg, Krankheit und Tod zur Sprache.
Bescheidenheit und Humor sind ihre größten Tugenden, im öffentlichen Leben wie in ihrer privaten Existenz. So war ihre Dankesrede, als sie im September zum "Schweden des Jahres" gekürt wurde, typisch:
"Wisst Ihr eigentlich, was Ihr da macht?
Ich bin blind, taub und verrückt.
Jetzt denkt die ganze Welt womöglich,
jeder Schwede sei so."
Noch heute nimmt sie kein Blatt vor den Mund, Ehrlichkeit ist ihre Natur: Warum verschweigen, dass sie 1926 einen unehelichen Sohn zur Welt brachte, fünf Jahre später nicht den Vater, sondern einen anderen heiratete und ihm eine Tochter gebar, die ihre Mutter, während das kleine Mädchen mit einer langwierigen Krankheit ans Bett gefesselt war, um das Erzählen von Geschichten anbettelte, aus denen Pippi entstand?
Astrid Lindgren weiß keinen Grund für ihren phänomenalen Erfolg. Sie weiß nur, dass "die Seele der Kinder und ihre Bedürfnisse sich nie geändert" haben. Darüber hinaus vergisst sie nicht, dass Kinder in jeder Geschichte ein Happy-End erwarten, weil für sie das Gute siegen muss. Darum hat sie sich bemüht in Wort und Tat, bis zu ihrem 90. Geburtstag - und hoffentlich noch lange darüber hinaus.
© Alfred Starkmann - DIE WELT - 14. November 1997