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Der Traum vom Freistaat Lindgren

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Astrid Lindgren
Astrid Lindgren

© Tilman Jens & Andrej Reiser - GEO - Dezember 1986

In den Köpfen der Kinder sind sie längst Wirklichkeit, die Abenteuer von Pippi Langstrumpf, Madita oder Ronja Räubertochter, die Geschichten aus einem Schweden der Pferdeschlittenzeit, die Visionen von der liebenswertesten Republik des Erdballs. Wo es keine Beamten gibt, keine Korruption und keine Gewalt. Wo die Kinder regieren. Tilman Jens und Andrej Reiser (Fotos) haben Astrid Lindgren in ihrem Geburtsort Näs bei Vimmerby besucht und nachgeforscht, was von der Kindheit der Schriftstellerin, vom Freistaat Lindgren geblieben ist.


Morgen werden sie kommen ... murmelt der alte Mann im blauen Leinenkittel. Verloren sitzt er auf seinem Schemel über einem Pott Kaffee und schaut aus dem Fenster seines ochsenblutroten Holzhauses. Vor ein paar Tagen hat es zu schneien begonnen. Immer dichter fallen die Flocken, immer dicker wird die Decke, die sich über Dächer, Wälder und Hügel breitet. Keine Spuren im Schnee. Bäume und Zaunlatten haben die viel besungenen weißen Häubchen auf. Malerisches Schweden. Winter in Småland.

Seit fast 50 Jahren lebt Olle Svensson hier in Sevedstorp, in einem jener Zwergdörfer, von denen es so viele gibt im südwestlichen Schweden. Drei Wohnhäuser, Stall, Scheune und Geräteschuppen. Früher sah er Kinder draußen im Schnee, hörte vom See herüber das Klirren der Schlittschuhkufen, freute sich, wenn die Dämmerung über den Tannenwald hereinbrach, an der angezündeten Schneelaterne im Vorgarten. Drinnen roch es nach Weihnachtswürsten und selbstgebrautem Bier.

Manchmal glaubt der 79jährige Bauer, den ein Rückgratschaden vor mehr als 25 Jahren arbeitsunfähig gemacht hat, sie noch heute zu hören, die hellen Kinderstimmen, die vom Nordhof herüberdrangen:

"Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?" - und dann ein Lachen und Kichern. Ja, vor allem die Mädchen! Olle Svensson kommt ins Fabulieren. Er hat selten Gelegenheit dazu. Es gibt keine Kinder mehr in Sevedstorp.


Aber morgen werden sie kommen, die Kinder, strahlt Olle, der letzte Bewohner von Sevedstorp über alle Ruinen seines fast zahnlosen Gebisses. Die Kinder aus Bullerbü, aus jenem erinnerten Paradies der Schriftstellerin Astrid Lindgren, das in Wirklichkeit Sevedstorp hieß. Hier stehen jene drei Bullerbü-Höfe, die einander so nah sind, dass es so aussieht, als ob sich die Häuser gegenseitig schubsen. Hier in Olles einsamem Mittelhof wurde vor gut 100 Jahren Samuel August Ericsson geboren, Astrid Lindgrens Vater, der spätere Bauer und leidenschaftliche Geschichtenerzähler. Aus dessen Erinnerung an eine Kindheit im Pferdeschlitten-Zeitalter, an ein lebendiges Leben in Sevedstorp, hat Astrid Lindgren später ihre Bullerbü-Welt zusammengesetzt. Das Idealbild einer Gemeinschaft, in der es sich für jedermann leben lässt, in der man nicht nur Kind sein, sondern auch in Würde alt werden kann.

Im Rückblick hat sie in ihren Bullerbü-Büchern dies heitere Miteinander der Generationen beschrieben. Halb Småland scheint aus dem Häuschen, als Anders Johann Andersson, ehemals Bauer und nun als Großvater für sieben Wahl- und Realenkel aus Bullerbü unersetzlich, seinen achtzigsten Geburtstag feiert.

Glückwünsche von allen Gehöften der Region erreichen ihn: Pakete, Kuchen, Telegramme, die Großfamilie zum Kaffeeklatsch versammelt. "Ich hoffe, Gott wird seine Hand über unser kleines Bullerbü halten", sagt der greise Jubilar im Schaukelstuhl, während die Tränen in seinen grauen Großvaterbart tropfen. Und die Enkel, nicht minder gerührt, schwelgen in Plänen für eine gemeinsame, nimmer endende Zukunft: "Lasse wird Brita heiraten, wenn er groß ist, und sie werden im Mittelhof wohnen. Bosse heiratet Inga und wohnt mit ihr im Nordhof, und Ole", sagt Lisa, "heiratet mich. So können wir alle zusammen in Bullerbü wohnen bleiben."

Vergangene Träume. Literatur. Wenn Olle Svensson im Herbst nächsten Jahres 80 wird, werden die Scharen der Gratulanten ausbleiben, keine Reden geschwungen. Seit der Bruder vor 13 Jahren gestorben ist, lebt Olle Svensson allein. Schon als junger Mann, sagt er, war er zu krank, um eine Frau zu finden. Ein handkoloriertes Foto vom fünfzigsten Geburtstag - ein Geschenk des Pfarrers -, eine militärische Ehrenurkunde des Bruders aus dem Zweiten Weltkrieg, das Gemälde der Eltern über dem Holztisch mit der Bonbonniere sind die verbliebenen Zeugnisse aus Olle Svenssons Familienleben.

Die Tägliche Zeitung, die "Vimmerby Tidning", ist ausgelesen. Olle sitzt wie jeden Morgen am Fenster, schaut, scheinbar abwesend, auf die Durchgangsstraße von Pelarne nach Storebro, die oben zwischen den Hügeln entlangführt. Er zählt die vorbeifahrenden Autos. Führt sorgsam Protokoll. "Im Winter sind es um die zehn pro Tag, im Sommer ein paar mehr." Und zweimal pro Woche kommt das Auto der Sozialstation, zwei Frauen aus Vimmerby, der nahe gelegenen Kreisstadt, besorgen 90 Minuten lang den Haushalt, bringen vorgekochtes Essen für die nächsten Tage. Da wird der alte Mann, der den Umgang mit Menschen nicht mehr gewöhnt ist, immer schon Stunden vorher nervös, rasiert sich, scheuert den Waschtisch, poliert die beiden Kochplatten, fängt der Früh mit dem Aufräumen an. Denn gäbe es Anlass zu klagen, würde man ihn, fürchtet er, umgehend ins Altenheim einweisen.

Aber morgen werden sie kommen. Für ein halbes Jahr wird sich Olle Svenssons einsames Sevedstorp noch einmal im vergangenen Glanze präsentieren. Denn hier wird ab morgen "Bullerbü" gedreht, eine schwedisch-deutsche Koproduktion. Sechs aus einem Kreis von 6.000 Bewerbern ausgewählte Kinder werden sich hier noch einmal mit Schneebällen bewerfen, letzte Vorbereitungen fürs Weihnachtsfest treffen, geheime Botschaften über eine vom Mittel- zum Nordhof gespannte Zigarrenkistenseilbahn austauschen und schließlich - gegen Ende der Dreharbeiten - der Mittsommernacht entgegenfiebern. Astrid Lindgren selbst hat das Drehbuch geschrieben.

Sie werden kommen mit Kränen und Windmaschinen, mit einer Hunde-Dompteuse und einer Psychologin für die Kinderstars. Alles soll sein wie einst, und Olle Svensson, den man einmal als Großvater engagieren wollte, dann aber fallen ließ, weil er, der wortkarge Eigenbrötler, doch nicht recht in die mühsam restaurierte Bullerbü-Kulisse zu passen schien - er wird wie immer dasitzen und aus seinem Küchenfenster schauen, verstört über den ungewohnten Autoverkehr, die Erinnerungen von einst mit den nachgestellten Bildern von heute vergleichen.

 


"Meine Kindheit verlebte ich
in einem Land, das es nicht mehr gibt"

... hat Astrid Lindgren in ihrem Buch "Das entschwundenen Land" geschrieben, dem kleinen autobiographischen Erinnerungsbuch, das sie Olle Svensson zu Beginn der Bullerbül-Dreharbeiten nach Sevedstorop mitbrachte. Als habe die alte Dame mit der hellblauen Pudelmütze den Spielfreund aus Kindertagen um ein wenig Nachsicht bitten wollen für den künstlich inszenierten Trubel.

Für drei Tage ist sie von Stockholm nach Näs zurückgekehrt, ins Elternhaus, eine Pferdekutschenstunde von Sevedstorp entfernt, in den Pfarrhof, den Samuel August mehr als 50 Jahre lang gepachtet hatte. Er fuhr die Ernte ein, kutschierte den Herrn Pfarrer sonntags zur Predigt nach Vimmerby oder Pelarne. Ein großes Areal, nur mit Knechten und Mägden zu bestellen. Heute steht nur noch das Wohnhaus, in dem Astrid Lindgren am 14. November 1907 geboren wurde.

Um das letzte Fleckchen Kindheit vor dem bereits beschlossenen Abriss zu bewahren, hat sie das fast 300 Jahre alte Domizil gekauft. Die einstigen Stallungen - sie empört sich noch heute - hatte die Stadt Vimmerby in einer Nacht- und Nebelaktion anzünden lassen, "um ihr Gebiet zu erweitern. Und in einer mächtigen, prasselnden Feuersbrunst verschwand das Gebäude, wo einst Kraka und Rölla und Docka und Monalisa gestanden und ihr Heu gekaut und wo so viele Kinder gespielt und so viele Landstreicher auf dem Heuboden übernachtet hatten".

Ein See in Småland
Ein See in Småland

Astrid Lindgren ist nicht mehr oft in Småland. Als junge Frau von 19 Jahren ist sie für immer nach Stockholm gezogen. Sie weiß: Aus der wilden, geschichtenhungrigen Bauerntochter wäre nie die große Erzählerin geworden, hätte sie sich ihre Erinnerungen beschädigen lassen durch ein erwachsenes Leben am strahlenden Ort ihrer småländischen Kindheit.

Doch: "Wie oft sehne ich mich nach der Landschaft hier, nach der Natur, den Seen und Birkenwäldern, nach dem Heugeruch in den Ställen", sagt sie und lehnt sich auf dem elterlichen Sofa zurück, "nur wohnen kann ich hier nicht mehr. Aber wenn ich mit dem Schreiben beginne, dann bin ich plötzlich wieder daheim."

Zu Großstädten fällt ihr nichts ein, sie sind allenfalls düstere Gegenwelten, in denen ein Kind nichts zu suchen und nichts zu finden hat, nur noch abhauen kann, so wie der neunjährige Bo Vilhelm Olsson in "Mio, mein Mio", der, von seinen Pflegeeltern - Städtern par excellence - misshandelt, für immer aus Stockholm verschwindet.


Eigentlich alles, was Astrid Lindgren geschrieben hat, spielt in der Umgebung ihrer Kindheit: auf Höfen, in kleinen Dörfern, grünen Märchenreichen. Schauplätze, die sie freilich erst neu erfinden konnte, als sie sich von Småland verabschiedet hatte. Kein Buch ist hier entstanden, "aber noch habe ich nicht alles vergessen, noch kann ich sehen und den Duft spüren und mich der Seligkeit des Heckenrosenbusches auf der Rinderkoppel erinnern, der mir zum ersten Mal gezeigt hat, was Schönheit ist".

Die nussbraune Pendeluhr an der Wand schlägt dreimal. Diesen Ton hat Astrid schon als kleines Mädchen gehört. Am runden Holztisch saßen Eltern, Geschwister, Knechte und Mägde. Ein gleichberechtigtes Zusammenleben sei das gewesen, zumindest aus der Perspektive der Kinder. Nie habe sie, die Pächterstochter, das Gefühl gehabt, etwas Besseres zu sein als der Stallbursche oder der Tagelöhner, der bei der Ernte half. Wieso denn auch? Nach der Schule habe doch auch sie Rüben gezogen, Stroh gebunden, die Kühe gemolken.

Heute schaut sie ein wenig fassungslos auf ihren Weltruhm. "Seit die Dietrich nicht mehr nach draußen geht, bin ich wohl die meistfotografierte alte Frau der Welt", prahlt sie im besten Pippi-Stil und kokettiert mit der Kamera, "dabei ist mir wirklich unklar, warum mich jedermann liebt. Ich finde mich eigentlich ganz uninteressant."

Beharrlich weigert sie sich, einen tieferen Sinn in ihre Bücher hinein zu deuten. Nein, sagt sie immer wieder, ihre Bücher hätten keine Lehre und erst recht keine Moral. Sie schreibe, weil sie Spaß am Fabulieren habe. "Ich finde es eigentlich ein bisschen egal, welche Auswirkungen ich habe", sagt Frau Lindgren. Leises Understatement. Ganz so ist es nicht.

Mit Märchen wehrt sie sich gegen die ungenügende Wirklichkeit; mit einer kleinen Geschichte über die absurde Steuergesetzgebung in Schweden hat sie 1976 die sozialistische Regierung maßgeblich mitgestürzt. Bei den nächsten Wahlen freilich hat sie sich jeden Engagements enthalten: Waren es doch auch nach dem Machtwechsel erwachsene Bürger und keine Kinder, die da regierten, Astrid Lindgrens Sehnsucht nach Freiheit reglementierten.

Wenn die Erwachsenen mit ihrem engstirnigen Fortschrittsglauben sie wieder einmal zur Verzweiflung getrieben haben, dann fährt sie zurück nach Stockholm, schlendert über den Friedhof und besucht einen großen Kollegen, der über der seltsamen Spezies Mensch beinahe den Verstand verloren hätte: "Dann gehe ich zum Grab August Strindbergs, sage Guten Tag, zwinkere ihm zu und erzähle ihm, was heutzutage alles passiert."

Astrid Lindgren mit einem Ölgemälde von Näs
Es war schön, auf Näs Kind zu sein, und schön,
Kind von Samuel August und Hanna zu sein.
Übrig geblieben:
das Ölgemälde von Astrid Lindgrens Geburtshaus
und in einem Kästchen die Liebesbriefe der Eltern.

 

Fast starrsinnig hat sich die siebenfache Großmutter ihr Kindsein bewahrt, als hätte sie selber - wie Pippi - eine jener Krumellus-Pillen geschluckt, die das schlimmste Schicksal auf Erden, das Erwachsenwerden, verhindern. "Liebe kleine Krumellus, niemals will ich werden gruß", reimt Pippi, reimt Astrid. "Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern."

Immer neue Geschichten hat Astrid Lindgren um diese Kindheit gesponnen, deren Zauber sie in ihren SKizzen aus dem "entschwundenen Land" auf eine einfache Formel gebracht hat: "Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein.". Punktum. Dieses euphorische, dankbare Lebensgefühl - eine Reminiszenz auch an die glückliche Ehe der Eltern - wollte sie weitergeben, in immer neuen Brechungen an immer neue Kinder adressiert. Hymnen auf jene Zeit, in der sie das Leben erlernte. Schon Britt-Mari, die 14jährige Heldin ihres ersten Buches, ein Briefroman für Mädchen, vor 43 Jahren geschrieben, "vergöttert ihre Familie". Dieses Hochgefühl ist nie erloschen. "Oh, wie haben wir es schön in Bullerbü", bekennt Lisa. Auch Pippi Langstrumpf sprüht nur so von Daseinsglück: "Wie schön ist es doch zu leben!"

Konsequenterweise geraten die Erwachsenen in ihren Geschichten meist eigentümlich blass. Klischeefiguren. Vornehme und eitle Städter, geizig wie Frau Petrell aus Vimmerby, verschlagen wie der "Spikulant" aus "Pippi Langstrumpf". Sympathisch ist in ihren Büchern nur ein Mann vom Schlage Onkel Melchers, des 60jährigen Schriftstellers, der - gesegnet mit genialer Ungeschicklichkeit - in den Kindern von Saltkrokan die einzigen Verbündeten entdecken kann. Mit der vierjährigen Tjorven jedenfalls schließt Melcher, nachdem er bei der Installation einer Regenrinne die Küche unter Wasser gesetzt hat, einen Bund fürs Leben, "eine Freundschaft zwischen zwei Ebenbürtigen, die völlig aufrecht miteinander sind, und das gleiche Recht haben zu sagen, was sie denken. Melcher hatte reichlich viel von einem Kind in sich und Tjorven reichlich von etwas anderem, es war nicht gerade etwas Erwachsenes, aber eine merkwürdige innere Kraft, die es ihr ermöglichte, dass sie tatsächlich als Ebenbürtige oder zumindest als beinah Ebenbürtige miteinander umgehen konnten".

Ein 60jähriger Mann und ein kleines Kind: ein Gespann, so recht nach dem Geschmack von Astrid Lindgren, die, weil sie wie Pippi nicht groß werden wollte, scheinbar ganz beiläufig die liebenswerteste Republik auf dem Erdball geschaffen hat: den Freistaat Lindgren.

Hier gibt es keine Beamten, keine Korruption und keine Gewalt. Hier regieren die Kinder - in bestem Einvernehmen mit den Erwachsenen. Kleine Reibereien eingeschlossen.

Michel aus Lönneberga, eine Art Landwirtschaftsminister, der auch die widerspenstigste Kuh zu bändigen vermag, besucht mit seinem Vater den Tiermarkt. Der Vater verschwindet im Gewühl. "So ist es immer", dachte Michel, "man kann ihn einfach nicht mitnehmen." Minister-Kritik in humaner Form.

Ein Kinderkabinett ohne Pannen und Skandale: Gäbe es einen besseren Innen- und Sozialminister als Pippi Langstrumpf, die Räuber und Polizisten gleichermaßen in Schach hält, Immobilienhaien den Kampf ansagt, dafür aber Goldstücke an mittellose Kinder verteilt? Und wo gibt es eine Außenministerin vom Format einer Ronja Räubertochter, die, unbewandert im allgemeinen Diplomatenchinesisch, die Waffen mit einem drastischen "Scher dich zum Donnerdrummel" zum Schweigen bringt?

Auf ein Umweltministerium lässt sich verzichten. Die Natur ist in Ordnung. Still und grün. "Du hörst den Kuckuck rufen und die Amsel flöten, und du fühlst, wie weich die Kiefernnadeln unter deinen nackten Füßen sind und wie schön die Sonne deinen Nacken wärmt. Du gehst dahin und magst den Duft des Harzes von den Tannen und siehst, wie weiß die Walderdbeeren in den Lichtungen blühen."

Ein Paradies, ganz wirklichkeitsnah beschrieben, als könne man per Flugzeug, Eisbrecher oder mit dem nächsten Pferdeschlitten nach Saltkrokan, Bullerbü oder Katthult gelangen. Auf Astrid Lindgrens Schreibtisch stapeln sich Briefe aus aller Welt: "Wo treffe ich Pippi Langstrumpf? Wie komme ich von Wien nach Birkenlund nonstop?"

Längst sind ihre Geschichten Wirklichkeit geworden, nicht nur in den Köpfen der Kinder. Auch Eltern fragen an, ob man über die Autorin für den Sommer noch ein preiswertes Quartier in unmittelbarer Nähe der Villa Kunterbunt oder am besten gleich direkt in Bullerbü finden könnte.

Man kann. Schräg gegenüber des alten Pachthofs in Näs, quer über die neue Hauptstraße hinweg, wo einst der geliebte Kuhstall stand, liegt in Bullerbü-Vägen eine Beton-Siedlung. Drei monotone, eilig emporgezogene Quader, die Vimmerbys Ratsherren - als Geste der Verbeugung vor der großen Tochter der Stadt - "Bullerbü" getauft haben. Hier wohnt die neunjährige Linda mit ihrer Mutter und einem vier Monate alten Säugling. Auf dem Boden zwischen Sofa und Fernseher stehen halbausgepackte Umzugskartons. Die Johannsons sind erst ein paar Wochen hier in "Bullerbü". Lindas Mutter, die als Hilfsmechanikerin in einer großen Autowerkstatt arbeitet, kommt nur an den Sonntagen zum Einräumen. Und dann noch das Baby. Da bleibt kaum Zeit.

Aus einer Kiste kramt Linda einen pappverstärkten DIN-A4-Vordruck hervor. Eine Urkunde der Svenska Filmindustrie. Von Solveig, ihrer Klassenlehrerin, ermutigt, hat sie sich als Bullerbü-Kind beworben, hat ein paar Zeilen vorgelesen, wurde einmal über die Rampe des angemieteten Lichtspielhauses geschickt.

In Vimmerby, der kleinen Handelsstadt mit 18.000 Einwohnern, gibt es außerhalb der Touristensaison im Sommer ohnehin nur zweimal pro Woche Kino.

Nicht einmal in die Vorauswahl ist sie gekommen. Die Jungen und Mädchen aus den Großstädten präsentierten sich besser. Aber immerhin diese Urkunde, auf die Linda stolz ist: "Die Besitzerin hat am Wettbewerb zur Auswahl der Bullerbü-Kinder teilgenommen." Sie mag die Geschichten der alten Dame. "Madita" und "Mio, mein Mio" hat sie gelesen. Natürlich auch Pippi. Die ist ihr, der Viertklässlerin aus der Astrid-Lindgren-Schule, allerdings ein bisschen zu vorlaut und frech. Nein, das wäre keine Freundin für sie.


Einmal im Monat leihen sich Mutter und Tochter einen Videorecorder. Per Kassette hat sich Linda auch auf die Kandidatenschau im Kino vorbereitet, in einer alten Schwarzweiß-Verfilmung das Leben der Bullerbü-Kinder studiert. Lisa, die Siebenjährige vom Mittelhof, mag Linda am liebsten. "Auch ich sammle Puppen" - allerdings keine aus Holz, auf deren Gesichter böse Brüder einen Schnurrbart malen können, sondern "richtige", wie Linda sagt: bonbonbunte Barbie-Puppen mit Beauty-Studio, Hollywoodschaukel und einem schicken Sportwagen. Die seien echt - wie im wirklichen Leben.

Sie geht noch einmal in ihr Kinderzimmer und kommt mit einem Fotoalbum zurück. Sie zeigt auf eine verblasste Polaroid-Aufnahme. Der Mann im karierten Baumwollhemd - das sei ihr Vater. Sie hat nur noch dunkle Erinnerungen an ihn. Die Mutter war sechzehn, als Linda geboren wurde. Die Verbindung ging rasch in die Brüche. Sie blättert weiter. Lauter Hundebilder: Linda mit dem Rauhaardackel beim Picknick, auf dem Spielplatz, daheim auf dem Sofa. Das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz wird still: "Als Mami das Baby bekam, wurde unsere alte Wohnung zu eng. Also sind wir hierher gezogen."

In der Siedlung mit dem viel versprechenden Namen Bullerbü aber gibt es keinen Platz für Tiere mehr. Die Wände sind dünn, Parkplätze haben Gärten und Wiesen verdrängt. Vimmerby hat eine der höchsten Auto-pro-Kopf-Quoten in ganz Schweden. So wurde Lindas Hund notgedrungen eingeschläfert.

Aus dem Fenster kann man Astrid Lindgrens Geburtshaus sehen, in dem im November 1907 eine andere Kindheit begann, eine Kindheit, die sich in der Erinnerung zu einem Kunstwerk verklären ließ:

"Wir spielten und spielten,
so dass es das reine Wunder ist,
dass wir uns nicht tot gespielt haben."


Vi ska ga ut till Näs - auf nach Näs zu den Ericssons!

Das war in den Jahren um 1915 die Parole einer ganzen Clique von Stadtkindern aus Vimmerby, die - sooft sie nur konnten - zu Astrid und ihren drei Geschwistern hinauseilten. Da draußen, keine zehn Minuten von Vimmerbys Marktplatz entfernt, begann eine andere Welt.

Die hohle Ulme auf dem Pfarrhof Näs
Sie steht noch immer im
Garten des Pfarrhauses: die hohle Ulme,
an die sich Astrid Lindgren erinnerte,
als sie Pippi Langstrumpf schrieb.
In diesem Refugium trank Pippilotta Viktualia
Rollgardina Pfefferminz ihren Kaffee.


 

"Da gab es eine hohle Ulme. Da haben wir die Mädchen immer eingesperrt", sagt der 80jährige Nils Stahl, Seniorchef der ortsansässigen Möbelfabrik, und macht ein viel sagendes Verschwörergesicht, als habe er gerade ein streng gehütetes Bandengeheimnis verraten. "In der Scheune haben wir uns durchs Heu gegraben. Und dann haben wir Zirkus gespielt. Ich war der Clown, Yngwe, mein Blutsbruder, turnte auf dem Hochseil - und Astrid war unser Direktor."

Sie hatte die Fäden in der Hand, arrangierte die Nummern. Fingerübungen, Stellproben für später. Alles sollte sich in ihren Büchern wieder finden. Die hohle Eiche steht in Pippis Garten. Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz pflegt dort ihren Kaffee zu trinken. Die Gänge im Heu haben die Bullerbü-Kinder nachgegraben, um sich - natürlich vergebens - vor den Mädchen zu verstecken, die in den Büchern der Lindgren meistens schlauer als die Jungen sind. Und die geheimnisvollen Wälder aus "Mio, mein Mio" oder "Ronja Räubertochter", auch sie lagen damals nur einen Steinwurf von Näs entfernt.

Yngwe Östermann, Elektromeister, auch er schon über achtzig, holt ein Foto aus einer Schublade. Vimmerbys Volkstanzgruppe 1923. Er oben rechts, unten die zweite von links ist Astrid. Auch Nils, der Clown, und Karin Hoflund, die Bäckerstochter der Stadt, sind mit auf dem Foto. Yngwe hat die beiden nach Jahren wieder einmal zu sich eingeladen.

Nein, besonders auffällig sei sie eigentlich nicht gewesen, die "Ericssons dotter", wie man Astrid Lindgren bis heute in ihrer Heimatstadt nennt. Aber an ihre merkwürdigen Zeichnungen kann sich Yngwe noch sehr genau erinnern. "Eigentlich malte sie immer dasselbe: glückliche Eltern, glückliche Kinder. Und das meistens in einem leuchtend bunten Garten."

Diese Bilder sind über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis haften geblieben, gerade bei ihm, dessen eigene Kindheit eine Odyssee des Schreckens, ein böses Märchen war. Yngwe war sieben, als seine Eltern nach Amerika auswanderten. Wie so viele damals. Der Boden war schlecht, die Arbeit rar, das Essen knapp, wenn man nicht gerade auf einem Bauernhof lebte. Bald nach Ankunft in der neuen Welt starb Yngwes Mutter. Der Vater, der in Amerika schnell Fuß gefasst hatte, fand eine andere Frau. Yngwe und seine Schwester waren im Weg. Mit einem Oneway-ticket und einem Namensschild um den Hals wurden die beiden Kinder - Yngwe neun, die Schwester elf - in einem Ozeandampfer nach Göteborg verfrachtet. Von dort haben sie sich dann nach Vimmerby, das immerhin 300 Kilometer entfernt war, durchgeschlagen. Vom Vater hat Yngwe Österman nie wieder etwas gehört. Er ist bei seinem Großvater aufgewachsen.


Keine Spur von Freistaat Lindgren. Nicht bei Olle Svensson, dem Alten von Sevedstorp. Nicht in den Erinnerungen von Yngwe Östermann, nicht bei Linda in ihrer trostlosen Bullerbü-Siedlung. Nicht einmal bei den Bullerbü-Kindern im Film. Die sind bereits nach drei Tagen übergeschnappt, präsentieren sich in gestelzten Posen vor den angereisten Fotografen, palavern in schwedisch-englisch-deutschem Kauderwelsch, um das Augenmerk der Journalisten auf sich zu ziehen. Kaum Kinder mehr, sondern kleine Medienprofis, der spielerischen Lindgren-Welt weit entrückt, die nur noch in ihren malerischen Fassaden zu existieren scheint.


"Ich glaube, Astrid war und ist eine Ausnahmeerscheinung, und ihre Welt ist der heute wie gestern unerfüllte Traum von einem besseren Schweden", sagt Karin Hoflund, eine der Volkstänzerinnen auf Yngwe Östermans Fotografie. Sie hätte gern studiert. Aber die Eltern ließen sie nicht einmal auf die Realschule. "Ja, wärst du ein Junge ... " Sie hat diese verhasste Litanei noch als 80jährige in den Ohren.

Weh dem, der nicht als Pippi oder Lotta, Lisa oder Ronja geboren wurde, nicht zu jenen erdachten Gestalten gehörte, die Astrid Lindgren im Laufe ihres Lebens so nahe gekommen sind, als seien es ihre leibhaftigen Freunde. Michel in der Suppenschüssel etwa, der schlimmste und doch liebenswerteste Flegel aus ganz Småland, der seinen Vater schon mal in bester Absicht auf dem Lokus einriegelt.

Als Astrid Lindgren den dritten und letzten Band mit Michel-Geschichten beendet hatte, der Vorrat an immer neuem Unfug aufgebraucht war und die Druckfahnen auf dem Schreibtisch lagen, da hat sie geweint und ist lange krank geworden. Das war einer wie sie, von dem sie da Abschied nehmen musste, ein nicht zu bändigender Phantast, der selbst die unzähligen Bußestunden im dunklen Tischlerschuppen, den die entnervten Eltern als Arrestzelle umgebaut hatten, aufs angenehmste zu nutzen verstand: zu träumen und zu spielen.

Die Welt der Astrid Lindgren: das ist die Utopie von einer sozialen Gemeinschaft, die sich an den Bedürfnissen, Nöten und Ängsten ihrer schwächsten und beschützenswertesten Mitglieder orientiert: Deren Partei hat sie zeitlebens ergriffen. Als der Börsenverein des Deutschen Buchhandels der Schriftstellerin in einem Akt seltener Weisheit den Friedenpreis verlieh, erzählte die Geehrte am Ende ihrer Dankesrede ein Gleichnis, das in ganz einfachen Sätzen das Einmalige, Unverkennbare all ihrer Bücher beschreibt.

Sie erzählte von einem kleinen Jungen, der irgend etwas ausgefressen hatte. Die Mutter wollte ihm eine Tracht Prügel verpassen. Sie schickte ihn in den Garten, damit er selbst eine Rute hole. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: "Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen." Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben: "Meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein." Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selbst gegeben hatte:

» NIEMALS GEWALT!


Mit den Augen eines Kindes: So hat Astrid Lindgren ihr Traumland entworfen, in der schwedischen Natur verwurzelt und doch gleichsam angesiedelt überall auf der Welt, überall, wo es Kinder gibt. Ein Reich der Freiheit und Phantasie, in dem niemand mehr einsam ist und sich keiner mehr ängstigen muss. In der Kinder wie Pippi mächtig sind, aber ihre Macht - anders als die Erwachsenen - niemals missbrauchen. Selbst die Furcht vor dem Tod erübrigt sich. Astrid Lindgrens wohl größtes Buch, "Die Brüder Löwenherz", ist ein Märchen über das Sterben und darüber, wie der todkranke Krümel Löwenherz allmählich die Angst davor verliert. Am Ende kann er in Frieden sterben: "Nie wieder Angst haben!"


© Tilman Jens & Andrej Reiser - GEO - Dezember 1986


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Tonia Karina Heinrichs Tochter Tünnissen-Hendricks
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Heinrichs Tochter
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