© NORDEUROPAforum 1995
... von Janine Klein (Skandinavistin und Kunsthistorikerin in Berlin)
Astrid Lindgren revolutionierte nicht nur die Kinderliteratur, sie kämpfte auch zeitlebens für die Rechte von Kindern und eine lebenswertere Welt. Für dieses Engagement wurde die 88jährige mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Es gab eine Zeit, aber es ist noch gar nicht so lange her, da gaben die großen Leute ihren Kindern Steine statt Brot. Ein Märchen? Nein, aber der Anfang der Geschichte der Jugendliteratur. So charakterisiert Richard Bamberger zutreffend die Zeit, als man begann, Bücher für Kinder zu machen. Es waren Bücher, die nicht den Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Träumen der Kinder entsprachen, sondern solche, die die Erwachsenen selbst widerspiegelten. Sie boten den Kindern Bücher an, die von Langeweile nur so trieften und geeignet waren, ihnen alle Weisheit und Vernunft ein für allemal zu verekeln. (Paul Hazard) Diese Literatur war so haarsträubend moralinversetzt, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts Heinrich Wolgast eine Kampfschrift herausgab, die er Vom Elend der Jugendliteratur betitelte. Trotzdem änderte sich die Lage nicht.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg trat mit Astrid Lindgren die Wende ein. Denn hier trat eine Autorin auf, die mit beachtlicher Zivilcourage konsequent ihren Respekt vor dem Kind als Kind lebte und dies auch von allen anderen forderte. Sie stand kämpfend wie eine Löwin vor dem Recht des Kindes, Kind sein zu dürfen. Eine ihrer Stellungnahmen - oder besser: ihre Kampfansage erschien bereits am 7. Dezember 1939 in Dagens Nyheter und ist heute noch so aktuell, dass sie hier zitiert werden soll, charakterisiert sie doch auch in weitem Maße Astrid Lindgren als Mensch:
Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein
... las ich neulich in einer Zeitung, und ich war bass erstaunt, denn schließlich liest man nicht jeden Tag etwas in der Zeitung, das wirklich wahr ist. Hier spricht ein Revolutionär.
Nein, es ist nicht leicht, Kind zu sein! Es ist schwer, ungeheuer schwer. Was bedeutet es denn - Kind zu sein. Es bedeutet, dass man ins Bett gehen, aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne und Nase putzen muss, wenn es den Großen passt, nicht wenn man selbst es möchte. Es bedeutet, dass man Knäckebrot essen muss, wenn man viel lieber eine Scheibe vom frischen Brot hätte, und dass man ohne mit der Wimper zu zucken in den Milchladen rennen muss, um eine Marke für den Gasautomaten zu holen, obwohl man sich's gerade mit einem dicken Buch gemütlich gemacht hat. Es bedeutet ferner, dass man ohne zu klagen die ganz persönlichen Ansichten jedes x-beliebigen Erwachsenen über sein Aussehen, seinen Gesundheitszustand, seine Kleidungsstücke und Zukunftsaussichten anhören muss.
Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn man anfinge, die Großen in dieser Art zu behandeln.
Revolte der Jugend
Große Leute haben einen unangenehmen Hang, mit Vergleichen zu kommen. Sie sprechen gern von ihrer eigenen Kindheit. Soweit ich verstanden habe, hat es in der ganzen Menschheitsgeschichte keine solche Ansammlung von begabten und wohlerzogenen Rangen gegeben wie zu der Zeit, als meine Eltern aufwuchsen. Zu jener Zeit waren die Kinder wirklich reizend. Sie bekamen in der Schule nie eine Mahnung, sondern hatten immer nur die besten Zensuren im Zeugnis, sie putzten sich die Schuhe stets selbst und machten täglich ihr Bett, sie wuschen Ohren und Hals jeden Morgen mit kaltem Wasser, und sie liebten gutes und nahrhaftes Essen, vor allem gekochten Fisch und Gemüse. Auf ihre kleinen Geschwister aufzupassen war ihnen höchste Lust, und der bloße Gedanke, als Gegengabe Kinogeld anzunehmen, war ihnen höchst unangenehm. Kurz - ihre Kindheit war eine einzige, lange Sonntagsschulgeschichte. Der Dichter kann an niemand sonst gedacht haben, als er schrieb: Wir ahnen Fürsten, wo wir Kinder sehen, erwachsene Könige zu finden, ist uns nicht gegönnt.
Meine Kinder, falls ich welche bekomme, werden jedenfalls keine Sonntagsschulgeschichten zu hören bekommen. Wenn sie mit zitternden Knien ihre ersten Mahnungen heimbringen, werde ich sagen: Fürchtet euch nicht! Den mittelschwedischen Rekord in Schulmahnungen hält immer noch Euer Vater.
(Astrid Lindgren)
Pippi Langstrumpf liest sich wie die zwingende Folge dieses Artikels, Pippi, der niemand sagt, wann sie ins Bett gehen soll und die mit den Füßen auf dem Kopfkissen schläft.
Astrid Lindgren wird nicht müde zu fordern, dass die Eltern ihren Kindern Liebe und Geborgenheit geben sollen, Sicherheit und Vertrauen. Sie ist mit A. S. Neill, der 1921 die legendäre Schule Summerhill gründete, der Meinung, dass Kinder von Grund auf gut sind, sie vertraut auf deren Fähigkeit, sich eine eigene Meinung bilden zu können - und zwar die richtige. Sie gesteht dem Kind eine Freiheit zu, die ausschließlich in der Freiheit des Mitmenschen und in der Verantwortung für sich selbst und andere ihre Grenze findet. Achtung und Respekt der Menschen voreinander (auch der Erwachsenen vor den Kindern) sind für Astrid Lindgren Schlüsselworte. Fordert Eure Kinder nicht im Zorn heraus (...) Behandelt sie etwa mit derselben Rücksicht, die ihr euren erwachsenen Mitmenschen zwangsläufig zeigen müsst.
Gebt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe,
dann kommt die Lebensart von selbst.
Ihr eigener Lebensweg scheint dies zu bestätigen:
Astrid Anna Emilia Ericsson wurde am 14. November 1907 auf Näs in Småland geboren. Gern erzählt sie (nicht zuletzt in ihren Büchern), welch glückliche Kindheit sie als Bauerntochter mit ihren Geschwistern als Kind einander liebender Eltern verlebte. Glücklich, obwohl - oder doch besser: weil es neben der Freiheit, die die Eltern ihren Kindern ließen, auch Arbeit und Pflicht gab. Verglichen mit heutigen Kindern mussten sie sogar viel arbeiten. Aber man kann in "Die Kinder aus Bullerbü" nachlesen, wie man selbst Pflichten wie Rübenverziehen ein Maximum an Spaß abgewinnen kann. Daneben existierten Respekt und Freiheit.
Astrid Lindgren berichtet, dass sie nie geschimpft wurde, wenn Kleider verschmutzt oder zerrissen waren - die Mutter setzte voraus, dass es nicht absichtlich geschehen war und besserte die Sachen schweigend wieder aus. Hatten die Kinder ihre Aufgaben erledigt, dann hatten sie auch wirklich frei. Dann durften sie toben, Geheimnisse haben, Entdeckungen machen und das Leben und die Natur genießen. Man lese "Kalle Blomquist" ...
Durch Astrid Lindgren selbst wird deutlich, was bei solcher Erziehungsmethode herauskommt: Glaube an sich selbst, Zivilcourage und Verantwortung. Immer wieder greift die Lindgren Fragen auf und tritt an die Öffentlichkeit, wenn sie der Meinung ist, es müsste etwas geschehen (so auf den Gebieten Kindererziehung, Jugendliteratur, das schwedische Steuerwesen, Tierschutz). Eigenverantwortung zeigt sie nicht zuletzt, als sie, mit 19 Jahren schwanger geworden, ihr Leben selbst in die Hand nimmt, nach Stockholm geht und für sich und ihren Sohn die beste Lösung sucht, eine Lösung, bei der das Wohl des Kindes selbstverständlich an erster Stelle rangiert.
In Stockholm macht sie eine Sekretärinnenausbildung und nimmt danach eine Stelle in einem Büro an. Über diese Zeit berichtet sie: Mehrere Jahre schuftete und arbeitete ich sehr viel, aß sehr wenig und begann gleichzeitig zu denken. Ich begann zu erkennen, dass die Welt gar nicht so war, wie sie sein sollte. Ganz im Gegenteil. Beinahe alles war falsch, und die Menschen waren unglücklich. Ich las Strindberg, der sagte, es sei schade um die Menschen. Das fand ich auch.
1929 fällt ihr Im Westen nichts Neues (von Erich Maria Remarque) in die Hände: An den Abenden lag ich in meinem Bett und las, und danach kroch ich unter meine Decke und weinte aus Verzweiflung, und ich dachte in meiner Verzweiflung darüber nach, was ich tun könnte. Was soll ich machen, damit es niemals wieder Krieg geben müsste? Und als sie mit 25 in der Zeitung von der Bücherverbrennung in Berlin liest, schreibt sie: Da verstand ich. Ich begriff, dass man nicht in Ruhe abwarten und glauben konnte, dass die Welt sich bessern würde.
1940, sie ist inzwischen verheiratet und Mutter zweier Kinder, bekommt Astrid Lindgren eine geheime Anstellung bei der Briefzensur des Nachrichtendienstes. Sie macht sich in ihrem Tagebuch Luft: Deutschland ist wie ein bösartiges Untier, das in gleichmäßigen Abständen aus seiner Höhle hervorgeschossen kommt und sich auf ein neues Opfer stürzt ...
15 Jahre später schreibt sie über Pippi Langstrumpf: Wenn ich jemals beabsichtigt hätte, die Figur der Pippi zu etwas anderem als der Unterhaltung meiner jungen Leser dienen zu lassen, so wäre es dieses: ihnen zu zeigen, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen. Denn von allen schweren Aufgaben des Lebens scheint mir das die allerschwerste zu sein. Überall wird Macht missbraucht. Jeder spielt sich als Herr auf, wo er nur kann. Das beginnt in der Kindheit und geht weiter bis zu denen, die Länder regieren. Pippi aber besitzt die Gabe, richtig damit umzugehen. Sie ist mächtiger als jedes andere Kind auf der Welt und wäre durchaus imstande, eine Schreckensherrschaft über Kinder wie über Erwachsene ihrer Umgebung auszuüben - aber tut sie das? Oh nein! Sie ist einfach nur freundlich, hilfreich und großzügig, und drastische Maßnahme ergreift sie nur, wenn es unumgänglich notwendig ist (...)
Nachdem Astrid Lindgren 1944, 1945 und 1946 Preise bei den Wettbewerben des Verlages Rabén & Sjögren gewonnen hat, holt Rabén sie sich in seinen Verlag. Sie soll zuständig sein für Kinder- und Jugendbücher - und schreibt Verlagsgeschichte. Sie hat keinen Plan, sie will nur einfach die besten Bücher für die schwedischen Kinder verlegen. Durch den jährlich ausgeschriebenen Rabén-Kinderbuchpreis tauchen ständig neue Autoren auf und auch diejenigen, die bereits mit einem Buch Erfolg hatten, bleiben dem Verlag verbunden und bieten ihm ihre neuesten Manuskripte an. Astrid Lindgren muss nur entscheiden, ob die Bücher gut sind oder nicht.
Auf die Frage, wie ein gutes Kinderbuch sein soll, antwortet sie lapidar: Man merkt es, wenn man es liest. Hierzu lese man in dem Bändchen "Das entschwundene Land" Astrid Lindgrens Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor.
Was ist denn nun das Faszinierende an den Büchern dieser Autorin? Die heile Welt à la Bullerbü, das traute Heim? Die vorgeführte Freiheit in Pippi Langstrumpf?
Das Wesentliche ist, so glaube ich, dass die Welt in den Lindgrenschen Büchern nicht heil, sondern vollständig ist; dass es beispielsweise die Freiheit der Kinder, unbeaufsichtigt spielen und Geheimnisse haben zu dürfen, in Kalle Blomquist nur gibt, wenn sie sich an bestimmte Regeln halten, wie z. B. zum Abendbrot um sieben pünktlich zu Hause zu sein. Dieses Bedürfnis der Eltern, ihre Sprösslinge zu diesem Zeitpunkt zu sehen, ist den Kindern zwar ziemlich unerklärlich, aber sie haben begriffen, dass dies der Preis dafür ist, dass sie die Ferien ansonsten ungestört genießen dürfen. Man könnte andersherum sagen: Sie haben gelernt, die Bedürfnisse ihrer Eltern zu respektieren. Da ist es wieder: gegenseitiger Respekt.
Modern war Astrid Lindgren, weil sie kompromisslos den Respekt gegenüber den Kindern seitens der Erwachsenen einforderte - beachtenswert und unübertroffen ist sie darin, dies nicht einseitig zu tun: Wurden in der antiautoritären Erziehung die Bedürfnisse der Kinder ausschließlich und auf Kosten aller anderer Familienmitglieder in den Mittelpunkt gestellt (hier war A. S. Neill gründlich missverstanden worden), leben die Personen der Lindgren-Bücher in gegenseitigem Respekt miteinander.
Und: Astrid Lindgren mutet ihren kleinen Lesern etwas zu. Sie mutet ihnen zu, ebenfalls Respekt zu haben. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich als Kind viel darüber nachgedacht habe, warum die Kinder in Ferien auf Saltkrokan so liebevoll und fast beschützend mit ihrem Vater Melcher umgehen, weshalb sie ihn so sehr lieben, wo er doch so gar kein Herzeigevater ist: Alles geht ihm entzwei, seine Erfindungen sind gut gemeint, aber enden regelmäßig in Katastrophen, er ist ungemein tollpatschig und obendrein recht lebensuntüchtig. Melcher jedenfalls empfindet das selbst so. Mich hat das sehr beeindruckt und beschäftigt - und ein kleines bisschen meine Schubladenkinderwelt verändert. Durch Vater Melcher habe ich letzten Endes begriffen, dass man lernen muss, bestimmte Gegebenheiten zu akzeptieren. Nicht jeder kann ideal sein - jedoch muss er das Beste aus seinen Möglichkeiten machen. Und das tut Melcher: er strengt sich ungeheuer an, ein guter Vater zu sein!
Astrid Lindgren mutet ihren Lesern auch die Wirklichkeit zu, die Ungerechtigkeit in der Welt, Trauer, Schrecken und Gewalt, denn: Kein orientalischer Märchenerzähler, der die farbigen und recht grausamen Geschichten aus 1001 Nacht im Basar erzählte, machte den Mund zu, weil er Kinder zwischen seinen Zuhörern wahrnahm (...) Keiner Großmutter und keiner Kinderfrau der vergangenen Zeiten wäre es auch nur einen Augenblick in den Sinn gekommen, dass ihre Märchen zu grausam und zu schrecklich für die Kleinen gewesen wären, die sich an sie schmiegten und die über das, was sie hörten, abwechselnd zitterten, weinten und lachten. (Geborgenheit!) Meine Geschichten haben stets ein gutes Ende, damit die Kinder nicht trostlos bleiben. Natürlich glauben erwachsene Leser - mich selber inbegriffen -, dass Mio immer noch auf der Parkbank sitzt, so trübselig und verlassen wie eh und je. Aber alle Kinder samt dem Kind in mir selbst wissen genau, dass es nicht so ist! Mio ist im Land der Ferne, bei seinem Vater. dem König, und er hat es dort gut.
Viele Geschichten Astrid Lindgrens haben ihre Wurzeln in ihrer eigenen Kindheit, wie zum Beispiel Pelle zieht aus bzw. Lotta aus der Krachmacherstraße: Ach, wer hätte das nicht versucht? Im Alter von ungefähr fünf Jahren beschloss ich, genau wie Pelle, auf's Örtchen, das draußen auf dem Hof war, zu ziehen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt und wollte der Familie eine Lehre erteilen. Ich war überzeugt, alle würden nun laut weinend ankommen und mich bitten, doch um alles in der Welt wieder nach Hause zurückzukehren. Aber niemand kam, und das war schrecklich. Ich war gezwungen, ganz von selbst wieder zurückzukehren, und ich empfand mit Bitternis, dass niemand, niemand in der ganzen Welt mich vermisst hatte. Deshalb handelt Pelles Mutter so verständnisvoll. Damit wollte ich endlich mein fünfjähriges Ich trösten, das bestimmt irgendwo unter den Jahresringen der Seele noch vorhanden ist.
1952 wird Astrid Lindgren Witwe. Sie heiratet nicht wieder. Sie findet sich in ein Leben alleine, genießt Kinder und Enkel, wenn sie da sind - und begreift ihr Alleinsein als Möglichkeit, intensiv schreiben zu können.
Ja, das grenzenloseste
aller Abenteuer der Kindheit,
das war das Leseabenteuer
... ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht gemacht. Eltern, ihr müsst euren Kindern den Weg zum Buch weisen. Zusammen mit Eurem Kind müsst ihr lustige oder auch traurige Bücher lesen, egal welche. Eines weiß ich, ihr werdet bald entdecken, dass diese Bücher das beste Verbindungsglied sind, die es gibt. Vertrautheit stellt sich ein, wenn ihr zusammen über ein Buch lacht oder weint. Und vieles von dem, was euer Kind innerlich beschäftigt hat, kommt zur Sprache, wenn ihr euch über das Gelesene unterhaltet.
Immer wieder wurde Astrid Lindgren gefragt, für welches Publikum sie schreibe, ob sie beim Schreiben eine genaue Vorstellung von ihrem Leser habe: Ich schreibe für ein einziges kleines Mädchen, ein Mädchen, das mitunter sechs Jahre oder acht oder auch elf Jahre alt ist. Immer aber ist es dasselbe Mädchen ... es wohnte vor vielen Jahren auf einem Bauernhof in Schweden, das war im Pferdezeitalter, als es noch herrlich war, ein Kind zu sein.
Mit Michel aus Lönneberga entstehen dann Geschichten aus dem Pferdezeitalter, bei denen der alte Vater Ericsson Astrid Lindgren eine Quelle an Informationen ist, er weiß die Preise für Ochsen, Butter und Milch jener Zeit und berichtet von Streichen, die er selbst ausgeheckt, und Ideen, die er selbst als Kind gehabt hat.
Michel, der im Schwedischen Emil heißt, aber im Deutschen mit Rücksicht auf Erich Kästners Emil und die Detektive seinen Namen änderte, betrachtet die Welt und die Erwachsenen mit den Augen eines Kindes und bedenkt diese beiden Hälften mit seiner eigenen Logik.
Bei all seinen Streichen handelt er mit Bedacht, nicht um destruktiv oder aufsässig zu sein, sondern um eine Erfahrung auf seine Weise zu machen, um also tüchtiger zu sein, als es die Erwachsenen offenbar sein können. Dass er bestraft wird, hat nichts mit Gewalt als Folge pädagogischer Ratlosigkeit zu tun, sondern mit dem vollen Arbeitspensum der Bauern im Pferdezeitalter. Sie hatten einfach nicht immer Zeit für soviel Phantasie, sie mussten sich gelegentlich eine Verschnaufpause verschaffen, um ungestört ihre Arbeit erledigen zu können. Deshalb wurde Michel in die Holzkammer gesperrt, dem einzigen Ort auf dem Hof, wo man hoffen konnte, eine Weile vor ihm Ruhe zu haben.
Aber so wie Astrid Lindgren von der eigenen Mutter erzählt, dass sie ihre Jüngste nur schweigend abwusch, als diese auf den Küchentisch gekrabbelt und die Schüssel mit der Blutgrütze umgekippt hatte, und danach halt etwas anderes zu Mittag auf den Tisch stellte, so sind die Michel-Eltern von einem schweigenden Einverständnis mit den Taten dieses unbändigen Sohnes erfüllt. Sie spüren darin das Leben selbst, die Berechtigung dieses Lebens, sich zu entfalten, und vor allem: sie prügeln nicht. Sie sind nie ungeduldig. Sie explodieren und sie seufzen, aber eigentlich nicht so sehr über Michel, sondern weil ihnen am Beispiel ihres so lebensvollen Sohnes immer wieder klar wird, was einmal war und was man aufgeben musste.
Um Kritik hat sich Astrid Lindgren wenig gekümmert. Ihre einzige Entgegnung bestand darin, dass sie immer wieder geduldig darauf hinwies, sie könne nur über das schreiben, von dem sie etwas verstünde.
Astrid Lindgren war immer darauf bedacht, ihre Familie, vor allem ihre Kinder, aus dem Rummel um sie herauszuhalten. Sie war deshalb tief betroffen, als 1977 ein Buch über sie erschienen war, das ihre und die private Sphäre ihrer Familie nicht respektierte, sondern in die Öffentlichkeit zog. Ich finde mich selber ganz uninteressant.
Von besonderer Art ist das Märchen von der Hexe Pomperipossa in Monismanien, ein Politmärchen gegen das schwedische Steuersystem. Pomperipossa soll nämlich 102 % Steuern zahlen. Unsinn, denkt sie, so viele Prozente gibt's ja gar nicht! Sie beschließt, auf die Straßen zu gehen und Geld zusammenzubetteln, damit sie sich ein Brecheisen kaufen kann: Zittert, ihr weisen Männer, (...) und verstärkt die nächtliche Bewachung eurer Geldkästen. 5000 [Kronen] will ich jedenfalls haben - könnt ihr hemmungslos stehlen, dann kann ich es auch. Es kam die Wende, die Steuern wurden gesenkt. Es ist bezeichnend für die Lindgren, dass sie verbittert darüber schimpfte, dass ein Märchen etwas erreicht hatte, was alle verzweifelten Appelle nicht vermocht hatten. Die Sozialdemokraten wurden zum ersten Mal nach dem Krieg nicht wieder gewählt.
Spätestens mit diesem Märchen wurde klar, dass Astrid Lindgren stets eine politische Kinderschriftstellerin gewesen ist. Ihre wohl stärkste Provokation war und ist, dass sich da jemand überhaupt nicht um gängige Meinungen kümmert, sondern handelt, wie er es für richtig hält. Dass jemand ganz offenbar im Glück aufgewachsen ist und nun auch noch das geworden ist, was die Psychologen prophezeien; ein Mensch, der inmitten der modernen Identitätskrisen, trotz Tod, Verlust, Enttäuschung und Einsamkeit heiter, ruhig und gelassen sein Leben lebt. Keinem die Schuld an dem gibt, was in diesem Leben schwer und schrecklich war und noch sein wird. Der mit Plagen und Prüfungen ganz alleine fertig und trotzdem nicht bitter geworden ist. Der nichts verdrängt, sondern nur manchmal schweigt. Der über die Kraft verfügt, sich nicht vom Leben beschädigen zu lassen.
Astrid Lindgren ist so, wie Menschen eigentlich sein sollten. Das ist das einzige Geheimnis ihrer Wirkung. Deshalb wird sie von Kindern und Erwachsenen geliebt, deshalb wurde sie als Hexe gefürchtet. (Sybil Gräfin Schönfeldt)
Ungezählt sind die Lesereisen, die sie unternahm, die Preise, die sie auf der ganzen Welt erhielt. Inzwischen ist Astrid Lindgren fast 88 Jahre alt, schreiben kann sie nicht mehr, denn sie ist fast blind. Geblieben ist ihr großes Herz für die Kinder, ihr Engagement, ihre Courage.
Die Ehrung durch die Verleihung des Alternativen Nobelpreises am 9. Dezember 1994 ist eine fast zwangsläufige Folge. Astrid Lindgren bekam den Preis für ihren lebenslangen Einsatz für das Recht der Kinder auf Liebe, Fürsorge und Respekt, zugleich aber auch [für] ihr Engagement für Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit, ihr Verständnis für Minderheiten sowie ihre Sorge um die Natur.
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