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Janosch zu Besuch bei Astrid Lindgren

» Interviews und Zeitungsartikel-Sammelsurium rund um Astrid Lindgren



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... ein Bericht aus dem entschwundenen Märchenland | © MERIAN - März 1994

Bullerbü, es war einmal

Waldbär trifft Pippi Langstrumpf ...Am 31.10.1993 traf der große dicke Waldbär Pippi Langstrumpf in Stockholm bei Vollmond ...

Janosch:

5.000 Kilometer liegen zwischen uns, Luftlinie, ein Interview soll stattfinden mit uns beiden, wir grausen uns so entsetzlich vor der ewig unsinnigen immer gleichen Fragerei:

  • Warum schreiben Sie Bücher?
  • Liebt ihr die Kinder auch wirklich und warum?

... mein Gott, war ich bedrückt.

MERIAN sagte, ihr seid die letzten, die die Geschichten noch aus dem Wald holten, nach euch wird man keine Bücher mehr lesen, und die Geschichten kommen aus dem Computer - Bullshit, denke ich, soll es doch sein, wie es sein wird.

Ich sage aber zu, denn genau eine Woche zuvor dachte ich, ich müsste unbedingt einmal Stockholm sehen, und schon kommt es von selbst.

Ich nenne das Magie und lebe davon - wir werden das Interview hintertreiben, zu verhindern wissen, uns gar davor schützen und lieber zum Beispiel über diese Magie reden. Über alles andere, nur nicht über Bücher.

Ich werde nie das Wort "Pippi Langstrumpf" sagen, schon gar nicht vom "kleinen Tiger" reden. Schon jetzt sei zum Trost gesagt: das gelang.

In jedem Fall und egal wie, wird sie (86) gestört werden, genau wie ich keine Interviews mehr ertragen kann. Obendrein ist Sonntag, an anderen Tagen ließ es sich nicht einrichten. Dazu kam, dass über Stockholm der Vollmond stand, der die Seelen verwirrt.

Volker Skierka, ein hochkarätiger Weltreisender, leider aber auch Journalist, kam mit, um dieses Unwerk zu vollbringen. Sie sagte sofort an der Tür:

Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben zu kommen?
Ich kann Journalisten nicht ertragen
mit ihren ewig gleichen und dummen Fragen.

Damit war er uns ausgeliefert, denn ich dachte genauso.

Mittagsruhe bei Janosch (Poster)
Mittagsruhe bei Janosch (Poster)

Wir nennen ihn von da an "Herr Journalist", beschimpfenderweise auch "die Journaille" und werden ihm zeigen, wo es langzugehen hat. Rache soll sein - es sei denn, er fragt auch einmal etwas Vernünftiges. Er sagt, er könne das wegstecken, doch müsse er immer das gleiche fragen, angeblich wollten das die Leser wissen.

Lieber Journalist, das geht nicht gut, so wahr uns der Mond in den kleinen Wahnsinn treiben wird. Zu denken, die Leser sind dümmer als sie sind, gehört zu den großen Denkfehlern der Journaille. Voilà!

Er hatte den Termin mit ihr vor drei Tagen vereinbart - sie will es aber nicht mehr wissen, vor drei Tagen war ein anderer Tag. Wo bleibt die Freiheit, immer über jede Minute dann verfügen zu können, wenn sie ankommt und nicht drei Tage zuvor!! Ich - für mich - will das so haben, und jeder freie Bärenvogel braucht das auch. "Beerenvogel" ginge auch. Es gibt genügend andere, welche die Knechtschaft zum Leben brauchen - also bitte keine Bedenken einwerfen, ja!!

Sie war schwach an dem Tag, konnte kaum hören, schlecht sehen, doch als wir den Journalisten zwangen, sich die Fragen von uns diktieren zu lassen, kam sie bald in Fahrt. Dabei versuchte er doch immer wieder zu fragen:

Warum schreibt ihr denn dann eigentlich Bücher?

Er wurde mit zwei Handbewegungen aus der Welt gefegt:

Warum backt der Bäcker Brot?

Und schon kam die Magie auf, denn er fragte sie: "Wer hätten Sie gern sein wollen?" Ihr fällt der Name nicht ein, und ich antworte für sie: "Rosa Luxemburg." - "Woher weiß er das, von wo weißt du das, wer hat das Ihnen gesagt? Ich sprach noch mit keinem darüber."

Hermann Gmeiner Der Vater der SOS-Kinderdörfer
Hermann Gmeiner
Der Vater der
SOS-Kinderdörfer


Ich sage noch, dass ich von der Magie lebe, will davon reden, behaupte auch, Gedanken seien fast so wirklich wie Steine, darum hütet euch, Leute! Sogar Nichtgedanken kann man hören. Sie lassen mir meine Magie nicht, weil sie mir nicht glauben, also nichts wie weg mit diesem Thema.

Ich sage noch, ich wäre gern Hermann Gmeiner gewesen, ziehe dann aber doch zurück, weil er entsetzlich an Krebs starb. Weil wohl fast alle guten Menschen entsetzlich sterben, die Schweinehunde aber leben sehr oft glücklich bis an ihr seliges Ende (denkt an manche Politiker in den Ländern der Welt!). Und so bemühe ich mich, kein guter Mensch zu sein. Lieber ein Lumpenhund.

Er fragt nach unserer Kindheit.

Sie sagt: "Ich habe auf einem Bauernhof gelebt. Meine Kindheit war Bullerbü, eine wunderbare Gegend, sehr schön. Ich habe Natur sehr gern, das hatte ich reichlich als Kind. Mein Vater war ein Bauer, und meine Mutter war eine Bauersfrau, und wir hatten Freiheit und Geborgenheit. Ja ich hatte eine glückliche Kindheit. Wirklich."

Seine war nicht gut, sagt er und will es wieder wissen und bohrt.

Ich sage, ich habe in einem Industriegebiet gelebt, im Keller unter der Erde. Es war nass und feucht. Mein Vater war immer besoffen, und ich habe mich sehr gefürchtet als Kind.

"Wovor haben Sie sich gefürchtet?" will sie wissen.

Vorm lieben Gott und vor dem Teufel. Und vor dem Vater, der hatte eine Peitsche, der hat mich geschlagen. Und vor der Mutter, die hat mich auch geschlagen. Und vor der Kirche.

Da tue ich ihr leid.

Sie schweigt einen Augenblick, bevor sie plötzlich sagt: "Sie hätten mich als Mutter nehmen müssen, ich hätte deine Mutter sein müssen."

Die Lindgren meint, die Menschen seien solche Bestien, sie möchte nicht wissen, wie viel Kinder von den Eltern totgeschlagen werden.

Ich sage, dass in diesen Fällen die Gerichte die Eltern etwa nach dem Gesichtspunkt der Tierquälerei verurteilen. Sie sagt nach mehr als 80 Jahren Leben:

"Vielleicht war es der Teufel, der den Menschen schuf."

Und der Mensch sagt, er sei ein Ebenbild seines Schöpfers. Und ich wage den kühnen Gedanken des Ketzers, dass der Teufel und Gott möglicherweise EINER sei. Dass es an dieser Stelle nur EINEN gibt. Bosnien-Sarajewo muss genannt werden. Adrenalin steigt wieder mal auf, das gewünschte Märchen bleibt auf der Strecke. Sie schließt sich dem an und sagt:

"Schreiben Sei das, Herr Journalist! Schreiben Sie nur Schlechtes, ja! Wir befehlen das! Oder schreiben Sie, wie sie wollen, es ist mir egal. Aber schreiben Sie nicht den ewigen alten Unsinn, ja!!"

Der Journalist wird von uns gezwungen, uns zu fragen, was wir auf der Welt ändern würden, wenn wir Gott wären. Ich will sagen: "Wenn du mit einem deiner Haare die Welt verändern könntest, dann behalte das Haar." Dann sage ich aber: "Ich würde zwei Drittel der Menschheit aus der Welt nehmen. Zu mir in den Himmel. (Ich glaube nicht an den Himmel Gottes über den Wolken und nach dem Tode. Ich kenne lieber den Himmel auf Erden. Und zwar innen drinnen in den freien Waldbärenseelen und in mir. Allein die größtmögliche Freiheit ist schon eine Seligkeit. Sofern man sie richtig begreift.) "Welche Menschen würden Sie dann herausnehmen?" - "Zuerst die Freiwilligen. Dann die, die Unheil anrichten ... Dann gäbe es auf der Welt wieder genügend Wohnungen, keine Hungertoten, keine Kriege, weil das Menschenmaterial knapp wäre. Die Überbevölkerung ist die Wurzel der meisten Probleme. Die Bevölkerung auf ein Drittel verringern, und die meisten Probleme der Weltvernichtung sind weg."

Er fragt: "Und wie die Überbevölkerung beheben?" Ich sage: "Mit Vernunft. Nur ist diese eher bei den Ratten möglich als beim Menschen, denn die Ratten stellen die Vermehrung ein, wenn zum Beispiel die Nahrung nicht mehr reicht oder die Umstände unerträglich werden."

Sie sagt: "Nein, alle Menschen müssen weg. Solange der Mensch auf der Welt ist, kann die Welt nicht mehr gerettet werden."

Außer uns beiden - verlange ich. Weil ich so total gern lebe.

Dann sagt sie auch: "Aber dann würde keiner mehr Mozart spielen, wenn sie alle weg seien." Und wir suchen noch ein paar aus, die bleiben müssten.

Der Journalist ist im Moment nicht dabei. Sie gibt später zu, vor sechzig Jahren Journalistin gewesen zu sein. Das wird ihr sofort vergeben, an diesem Tag gibt es ein Amnestie für Journalistinnen über 85.

Und wenn wir noch einmal geboren werden sollten?

Janosch zu Besuch bei Astrid Lindgren
Janosch zu Besuch bei Astrid Lindgren
Foto von: Volker Skierka

Wir wollen beide nicht. Und wenn es sein muss? Dann beide als Musiker. Beide an erster Stelle als Pianisten (sie umarmt mich und ernennt mich zu ihrem Sohn). Nur will sie Mozart und Liszt spielen und ich grenzenlos Blues, im Zwischenreich kann man auch in der Vergangenheit wiedergeboren werden, ich also damals in den Zwanzigern in New Orleans. Auch den argentinischen Tango muss ich bis zum Weinen aus dem Bandoneon fetzen können - sie überlegt, ob ich dann doch lieber nicht ihr Sohn sein sollte - , aber spielte Leonard Bernstein nicht auch ganz großartig den Blues? Ich behaupte: "Das tat er immer, wenn er einen Kleinen getrunken hatte. Von dem seligen Wein, denn der Schöpfer schuf auch gnadenreiche Mittel." Damit habe ich mich verraten, denn sie will wissen, ob ich etwa auch dem "selig guten Wein" zuspräche.

Ich lüge ein bisschen, damit sie mich nicht hinauswirft und sage: "Nun nicht mehr. Seit 15 Jahren keinen einzigen Tropfen. Zuvor wohl, weil mein Vater ein Säufer war und ich mit ihm um die Wette trank, er war immer mächtig stolz, wenn ich gewann." Ein Arzt hat ausgerechnet, dass ich sieben Eisenbahnwaggons voll ausgesoffen hätte. Sie sagt, sie trinke überhaupt keinen Alkohol. Hoffentlich lügt auch sie hier ein wenig, damit ich in meiner mir barmherzigen Notlüge nicht untergehe.

Damit meine ich: selbst zu entscheiden, ob ich nach links oder rechts gehe. Wann ich schlafe und wann nicht. Ob ich einen trinke oder ob nicht. Dass kein Staat meine Tür eintritt und mich grundlos ins Gefängnis oder an den Galgen bringt oder zum Militär zwingt. "Es gäbe genügend Freiwillige, die Soldaten sein wollen. "Nie will ich ertragen müssen, dass Macht an mir vollstreckt wird. Schon gar nicht von einem Offizier." - "Ja, das alles", sagt sie und nickt lange.

Nun aber Schluss mit diesem Thema, ja!! Am liebsten für immer.

Skierka: Also gut.

Warum schreiben Sie Kinderbücher?

Sie: "Weil ich Kinder liebe. Wenn ich schreibe, dann denke ich nur an das Kind, das ich einmal war." Sie sieht mich an: "Denken Sie an die Kinder?"

Ich antworte: "Wenig. Ich erzähle eine Geschichte, weil ich eine Geschichte erzählen will - für Kinder oder nicht, das ist mir egal."

Nun will er es wissen:

Wer liest denn Ihre Bücher?

Pippi Langstrumpf Buchstützen damit alles im Bücherregal stehen bleibt ...
Pippi Langstrumpf Buchstützen
damit alles im Bücherregal stehen bleibt ...


Lindgren: "Ach was, pfeifen wir auf Bücher. Jetzt brauchen wir nicht davon zu reden."

Skierka: "Aber Sie haben doch Millionen Freunde, die Bibliotheken sind voll von Euren Büchern ..."

Ich sage: "Ach, was!"

Sie lacht: "Ja, aber ich habe sie für mich geschrieben."

Und dann sagt er, die Kinder bekämen aus unseren Büchern Kraft.

Eine Spekulation, denke ich, denn woher weiß er das? Doch gebe ich zu: "Kraft zum Widerstand. Leben. Überleben. In der Tat versuche ich, Rebellen aus ihnen zu machen. Jene, die den Kriegsdienst verweigern. Im Angriffskrieg desertieren. Die gegen die Sau Mensch revoltieren. Einem General, der die Ritterkreuzträger verherrlicht, so real in den Arsch treten, dass er zu Lebzeiten keine Schlacht mehr veranstalten wird. Es reicht schon, wenn sie sich offen für eine Regierung schämen, die solches Gedankengut zulässt."

Eines lernte ich in dieser einen Stunde:

... die Journalisten nicht mehr so zu beschimpfen. Sitze ich doch hier in der gleichen Situation als Störenfried - ich möchte deswegen auch nicht gehasst werden. Jetzt liebe ich ihn schon fast, weil wir ihn so treten, weil er uns mit seinem Fotoapparat auf den Geist geht. Ich komme mir großartig vor, weil ich auf der Seite des Geächteten stehe. Nur umarme ich ihn nicht, betrachte ihn aber als einen Bruder.

Als er sie fragt: "Sind Sie Pippi Langstrumpf?" klinkt sie endgültig aus und sagt: "Dummsinnige Frage. Nein." - "Und wer sind Sie?" Also ich ... "Der glückliche Maulwurf." Noch so eine Frage obendrauf: "Und warum?" - "Weil die Ewigkeit an seiner Pfote beginnt, dann einmal ganz herumgeht und dort wieder ankommt." Aha!

Was möchtet ihr in eurem Leben denn noch erreichen?

Auch keine besonders gute Frage. Astrid Lindgren will es nicht wissen: eher nichts. Ich sage ungern: "Das Nirwana." Doch wer es nicht kennt, weiß nicht, wovon ich rede.

Und was habt ihr erreicht?

Sie antwortet jetzt nicht mehr. Und ich sage: "Wir müssen jetzt gehen, ja!!"

Sie hatten eine Begegnung zwischen Pippi Langstrumpf und dem Waldbären geplant. Ein Märchen sollte entstehen - nur wollte genau an diesem Tag der Vollmond kein Märchen ...

 


ASTRID LINDGREN, 1907 als Bauerstochter Astrid Ericsson in Näs bei Vimmerby (ihr "Bullerbü") in Südschweden geboren, ist Schwedens bekannteste und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzte Kinderbuchautorin mit einer weltweiten Millionenauflage. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen "Pippi Langstrumpf" und "Wir Kinder aus Bullerbü".

JANOSCH, 1931 als Hüttenarbeitersohn Horst Eckert im oberschlesischen Hindenburg/Zabrze geboren, ist Maler, Schriftsteller und einer der beliebtesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Janosch lebt auf Teneriffa.

© Bericht aus der Zeitschrift MERIAN - März 1994 von JANOSCH


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1 Kommentar zu diesem Artikel

LeeZa schrieb am 22.08.2021 um 11:33 Uhr

Toller Artikel, herrlich humorvoll geschrieben. Man kann sich diese beiden wunderbar eigensinnigen Menschen sehr gut genau so in einem Interview vorstellen. Danke dafür :-)



Dein Kommentar zu diesem Artikel

Tonia Karina Heinrichs Tochter Tünnissen-Hendricks
Tonia Karina
Heinrichs Tochter
Tünnissen-Hendricks

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