© Thomas Olivier - Berliner Morgenpost 1998
Pippi Langstrumpf und Herr Nilsson:
Astrid Lindgrens Kultkind kommt jetzt als Comic-Göre in die Kinos
Rund 17 Millionen Mark Produktionskosten, 120 000 Zeichnungen und 300 Designer aus 30 Nationen: Nach dreijähriger Herstellungszeit feiert Pippi Langstrumpf ihre Weltpremiere als Zeichentrickfigur - auf der Leinwand und im Fernsehen.
Am 22. Januar kommt das Kultkind in die Kinos. Die 26teilige TV-Serie (Produktionskosten: 18 Millionen Mark) für das ZDF wird gerade zu Ende animiert und geschnitten. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.
25 Jahre lang hatte die Branche um die Rechte gebuhlt. Was selbst Walt Disney nie geschafft hat, gelang der Hamburger Trickcompany ("Werner - das muss kesseln", "Felidae", "Das kleine Arschloch", "Ottifanten"): Sie bekam von der Kinderbuchautorin das Einverständnis zur Zeichentrickverfilmung. Der Argwohn der alten Dame hatte seinen Grund: "Bei vielen Zeichentrickfilmen", sagt Astrid Lindgren, "hatte ich bislang einfach kein gutes Gefühl." Zuviel Brutalität, zu wenig Erheiterndes. "Ich bin ausdrücklich gegen Gewalt in Filmen für Kinder."
Bereits vor fünf Jahren hatte der Chef und Inhaber der Hamburger Trickcompany, Michael Schaack (40), den Wunsch, die Abenteuer der kessen Göre zu verfilmen. Doch erst Mitte 1995 und nach "zahllosen Gesprächen" in Astrid Lindgrens Stockholmer Altbauwohnung und in ihrem Sommerhäuschen am See schmolz der Widerstand der erfolgreichsten Kinderbuchautorin der Welt (Gesamtauflage: 120 Millionen Bücher). Für Schaack eine Begegnung der besonderen Art: "Die Lindgren ist total unprätentiös und normal geblieben. Trotz ihres Erfolgs. Sie hat überhaupt keine Allüren."
Vierzig unterschiedliche Pippis waren entworfen und wieder verworfen worden. Mal waren sie der Lindgren zu brav, mal zu anarchistisch, mal zu amerikanisch. Die 90jährige Schwedin hatte einfache, klare Vorstellungen. "Ich wollte, dass Pippi hübsch und lustig ist", sagt sie. Um ganz sicher zu gehen, dass sich keine Gewaltszenen einschleichen, schrieb Pippis "Mutter" gemeinsam mit der schwedischen Autorin Catharina Stackelberg von der Svensk Filmindustri das Drehbuch zu "Pippi Langstrumpf": "Pippis Körpersprache musste glaubwürdig erscheinen." Mit der Arbeit wuchs das Vertrauen: "Dass die kleine Pippi ein Pferd tragen kann, lässt sich sehr gut in einem Zeichentrickfilm darstellen", resümiert Astrid Lindgren heute.
75 Minuten lang turnt Pippi über die Leinwand. Natürlich in der Villa Kunterbunt, mit ihrem Affen Herrn Nilsson und den Nachbarskindern Tommy und Annika. Was für ein Leben: Pfannkuchen schon zum Frühstück, keine Schule, keiner, der herumnörgelt, weil die Strümpfe nicht zueinander passen und die Schuhe zu groß sind. Ein Leben im Kinderparadies, ohne Angst, weil man stark genug ist, zwei Männer gleichzeitig am Kragen zu packen oder ein Pferd zu heben. "Ein anarchistisches Mädchen", sagt Produzent Schaack. Astrid Lindgren war "im tiefsten Herzen" klar, dass die Landschaft im Hintergrund schwedisch sein musste: "Mit schwedischen Bäumen und mit schwedischen Büschen. Pippi ist ein schwedisches Märchen." Eine Woche lang ging Schaack deshalb in Pippis Heimat auf Motivsuche. Er fotografierte Häuser, Gärten, Zäune, Wälder. "Sogar Teller und Briefkästen."
Der Produktionsaufwand für das Zeichentrick-Abenteuer war enorm: Knapp 300 Colour-Designer, Animatoren, Hintergrund- und Charakterdesigner aus Taiwan, Deutschland, Skandinavien und vielen anderen Ländern arbeiteten an der Herstellung - u. a. auch Animations-Profis, die bereits bei Filmen wie "Aladdin", "Feivel, der Mauswanderer" oder "Tiny Toons" mitgewirkt hatten. Nicht immer zur Erbauung mancher Pippi-Fans, wie Astrid Lindgren feststellen musste: "Viele Menschen haben mich gefragt, wie ich zulassen könne, Pippi Langstrumpf als Zeichentrickfilm produzieren zu lassen. Ich, die ich angeblich doch so sehr gegen Zeichentrickfilme sei." Besonders amerikanische Zeichentrickfiguren, so das Urteil der Kritiker, seien heute viel zu comichaft, zu verzerrt, klischeehaft, zu spekulativ, oberflächlich und mit zu hartem Strich gemalt. Argwohn, den Trickcompany-Chef Schaack nicht verstehen kann: "Wir konnten schließlich nicht einfach die Buch-Illustration übernehmen. Sie ist von Land zu Land unterschiedlich." Die internationale Verwertung hat Vorrang.
Die einzelnen Arbeitsschritte vom Script über das Kolorieren bis hin zur Kamera-Führung waren sehr zeitintensiv: 1600 Zeichnungen stecken in einer Minute Pippi-Film. 15 bis 20 Sekunden schafft ein schneller Animator pro Monat - je nach Detailfülle der Bilder. "Da kommen einige hunderttausend Arbeitsstunden zusammen", versichert Herstellungsleiter Jo Hahn. Insgesamt 1.200 Szenen mussten animiert werden, einige davon, wie die Sturmszene auf hoher See oder die Verfolgungsjagd mit dem Zirkuswagen, sogar dreidimensional. Das Schiff von Kapitän Langstrumpf tanzt auf echten Wellen. Pippi und die Regentropfen wurden per Hand dazu animiert. Im Sekundentakt legte Trick-Kameramann Graham Tiernan Folien, die nichts als Striche zeigen, über den düsteren Hintergrund der See. Damit es ordentlich schüttet, musste er jede dieser Szenen neunmal belichten.
Astrid Lindgren ist begeistert: "Ich habe ein sehr gutes Gefühl. Ich mag das, was ich bisher gesehen habe, sehr gern."
© Thomas Olivier - Berliner Morgenpost 1998